Gedanken zum eigenen Üben


"Ich werde oft nach einer Anleitung für das eigene Üben gefragt. Ein Rezept, einen Plan, eine Richtschnur, die dich davor bewahrt, Fehler zu machen. Ein Yoga, dass nur darauf ausgerichtet ist Fehler zu vermeiden, ist ein Vermeideyoga. Wenn du Yoga übst, begibst du dich in Gefahr, und das ist unvermeidlich. Ab und zu erarbeite ich mit einem/er Schüler/in ein Konzept nach dem sie oder er in den folgenden Wochen übt.

 

Aber dieser Plan ist nur die Momentaufnahme einer spezifischen Situation. Es könnte genauso gut sein, dass sich bei einer anderen Stunde ganz andere Übungen ergeben, da sich die persönliche Situation der/des Übenden inzwischen verändert hat.

 

Das Wissen von B.K.S. Iyengar ist aus dem Lernen ohne Angst entstanden. Wie sollte er sonst auf die Idee gekommen sein, sich mangels anderer Hilfsmittel über das runde Eisen einer Straßenwalze zu legen, um herauszufinden, ob diese Haltung seinem Rücken helfen könnte? Ein Vergnügen war das nicht. Aber nach einigen Malen stellte er fest, dass seine Rückenmuskulatur begann nachzugeben.

 

Wer nur von der Angst beseelt ist, etwas falsch zu machen, nimmt sich selbst das Recht der unmittelbaren Erfahrung. Nichts ersetzt das mit dem eigenen Körper erfahrene Wissen. Das übernommenen Wissen, das nie durch eigenes Erleben im Körper hinterfragt wurde ist nur das Echo der Erkenntnisse eines Anderen.

 

Auch wir haben anfangs im Rahmen unserer Ausbildung von unseren Lehrern nur Eines wissen wollen: Was muss ich tun, damit ich die Prüfung bestehe? Wie muss ich mich bewegen, was muss ich leisten, damit in ihren Augen alles richtig ist? Was soll ich dafür zu Hause üben?

Auf diese Fragen erhielten wir regelmäßig ein verstimmtes Kopfschütteln. Mit der Zeit lernten wir: Der erste Moment, an dem du allein auf deiner Matte stehst ähnelt der Erfahrung eines Malers vor einer weißen Leinwand oder der eines Schriftstellers vor einem weißen Blatt Papier. Es ist der Beginn einer Beziehung. Diese Stille ohne Anweisung, ohne externe Kontrolle, allein mit dir selbst, das musst du aushalten können.

 

Es ist vielleicht das erste Mal, dass du dich mit deinem Körper alleine auseinandersetzt, und er ist dir ein Rätsel. Dieses Rätsel gilt es zu lösen und, wie bei einem Puzzle, beginnst du die einzelnen Teile zusammenzusuchen. Das ist mühsam und dauert. Aber wer hat gesagt, dass es einfach wäre? Dann könntest du ja Malen nach Zahlen, oder?

 

Als Erstes brauchst du Zeit. Du bist ein/e Entdecker/in und die Vermessung der Zeit ist eher hinderlich als hilfreich. Außerdem brauchst du Geduld, Durchhaltevermögen und Konstanz, oder wie wäre Columbus sonst nach Südamerika gekommen? Und dabei hat er sich auch noch vertan, denn er wollte ja nach Indien!

 

Um nicht an dir selbst zu zweifeln brauchst du Vertrauen. In der Yoga Philosophie nennen wir es shradda. Es ist das unverbrüchliche, bedingungslose Vertrauen in die Existenz, in die du eingebettet bist. Du machst dich auf und verlässt mit einem kleinen Boot das heimische Ufer, paddelst drauf los, bald siehst du das Ufer hinter dir nicht mehr. Doch auch dein Ziel am anderen Ende des Ozeans ist nicht zu sehen. Ein Zurück gibt es nicht und da hilft nur shradda, also immer weiter paddeln in dem tiefen Vertrauen, dass du irgendwann ankommst oder vielleicht wie Columbus einen neuen Kontinent entdeckst.

 

Dabei triffst du auf einen der hilfreichsten und zugleich schwierigsten Aspekte des eigenen Übens: Deine Widerstande. Ein/e Yoga Übende/r ist jemand, der/die Widerständen nicht ausweicht, sondern sie sucht und umarmt.

 

Sie/Er nimmt die Herausforderung der inneren Widerstände an, um sich selbst besser kennen zu lernen, sich an ihnen zu reiben und mit ihnen zu wachsen. Die äußeren Widerstände sucht sie/er anstatt sich von ihnen weg zu bewegen. Sie/Er nutzt sie, um sich zu stützen, um sich auszurichten, um sich vom Äußeren zum Inneren zu bewegen.

 

Ein/e Yoga Übende/r praktiziert viveka, die unterscheidende Intelligenz. Sie/Er lernt Gefühle und Wahrnehmungen ein- und unterzuordnen und geht den Weg des Yoga ohne Angst, unermüdlich und von shradda geleitet. "


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Kommentare: 3
  • #3

    Annette Besuch (Freitag, 18 September 2020 07:55)

    Liebe Karin, ich kann mich Yvonne's Kommentar nur anschließen. Danke für deine klaren Worte.

  • #2

    Yvonne Jenisch (Dienstag, 08 September 2020 16:03)

    Danke für diesen ermutigenden Beitrag, liebe Karin! Ja, letztlich steht und fällt alles mit einer guten eigenen Körperwahrnehmung und dem Mut, den Kommentaren sogenannter Experten auch mal zu misstrauen, die da meinen, man wäre dafür schon viel zu alt, gegen die vorhandenen körperlichen Einschränkungen oder Disbalancen könne man halt einfach nichts machen, das sei bereits unrettbar versteift, verkürzt, vererbt usw. usw. usw. Ich weiß gar nicht, was ich da schon alles an Mist selbst gehört oder erzählt bekommen habe.

    Das Schlimme daran ist nur, dass viele Menschen dadurch entmutigt werden und sich nichts mehr zutrauen. Tut dann mal etwas weh, ist der Instinkt aus Angst heraus leider eher "oh, ich darf nichts mehr bewegen, sonst geht noch mehr kaputt" als "ich probiere mal verschiedene Bewegungen und Hilfsmittel ganz behutsam aus, erforsche, ob ich vielleicht einfach etwas falsch angehe und erspüre, was mir am besten hilft". Bewegung ist so oft die bessere Medizin als Ruhigstellung...

    Ich bin zum Iyengar-Yoga gekommen, weil ich genau diesen Ansatz der Selbstwirksamkeit und Achtsamkeit so wunderbar finde, das meditative Element in Bewegung und Atmung statt nur der "spektakulärsten Verrenkung". Diese unglaublich vielen Möglichkeiten, auch mit eigenen körperlichen Einschränkungen super üben, ganz behutsam Grenzen ausweiten und auch "im fortgeschrittenen Alter" ;-) noch verbessern zu können.

    Deshalb möchte ich uns alle ermutigen, dranzubleiben, auch wenn sich`s mal echt mühsam anfühlt, wenn der innere Schweinehund zum heimischen Sofa statt ins ferne Studio lockt, wenn eine Übungspause uns aus dem Tritt gebracht hat, wenn man das Gefühl hat, noch meilenweit vom Erfühlen rechter und linker Steißbeine und sonstiger interessanter Körperregionen weg zu sein - das braucht bestimmt einfach nur ganz viel Geduld und Mitgefühl mit sich selbst und eben Übungszeit! Irgendwann kommt der Moment, in dem der eigene Instinkt sagt "oh, da (ver)spannt was (ob körperlich oder geistig ;-) - ich glaub, ich geh mal auf die Matte!" - und dann eines fernen Tages stehen, sitzen und liegen wir da, und unser Körper gibt uns die Signale, welche der vielen möglichen Asanas nun die momentan richtigen für uns sind. Und dann "flutscht" es - so glaube ich zumindest ganz fest :-)

  • #1

    Jutta Maleska (Mittwoch, 02 September 2020 17:15)

    Deine Worte beruhigen mich in diesen unruhigen Zeiten sehr. Es tut so gut, durch die Yogastunden bei Euch, zur Ruhe zu kommen. Danke dafür!

Yoga in Zeiten des Corona Virus


Das Virus hat unser aller Leben verändert. Hier folgt eine kleine persönliche Betrachtung:

 

Mit 21 Jahren verbrachte ich im Zuge eines längeren Amerika-Aufenthaltes auch eine Woche bei einem Freund in New York. Es war meine erste Reise in die USA und auf Grund meiner Jugend und behüteten Kindheit war mein Verhalten von vertrauensseliger Neugier geprägt. Mein Gastgeber erkannte dies mit einem einzigen Blick und war äußerst besorgt über meinen unbekümmerten Erlebnisdrang. Er erteilte mir strikte Verhaltensregeln für meine Streifzüge durch die Viertel einer Stadt, die zu jenem Zeitpunkt als eine der gefährlichsten Metropolen der Welt galt. Noch heute kann ich mich an die Sirenen der Polizei- und Krankenwagen erinnern, die ohne Unterlass Tag und Nacht durch die geschlossenen Fenster unseres Apartments in Brooklyn drangen. Freunden und Nachbarn stimmten in seine Warnungen ein, und ich fragte sie erstaunt, wie sie mit dieser permanenten Gefahr leben konnten. Die Antwort war ein Achselzucken. "Man gewöhnt sich daran", war die lakonische Antwort.

 

Einige Jahre später gründete ich in Spanien auf der Insel Fuerteventura eine Familie. Ich fand in meinem Dorf nur offen stehende Haustüren vor, und wenn der Schlüssel wirklich einmal von Nöten war, befand er sich selten dort wo man ihn vermutete. Ich hatte meine Erlebnisse in New York nie vergessen und jedes Mal, wenn ich meine Einkäufe bei offener Auto - und Haustür ins Innere beförderte dachte ich: " Das hättest du in New York nicht machen können".

Ich musste mich um meine physische Unversehrtheit und die meiner Familie nicht sorgen und war mir bewusst, wie sehr meine Lebensqualität davon getragen wurde. Zu jener Zeit erreichten die ersten Ruderboote vom Afrikanischen Kontinent die Küste Fuerteventuras. Auf der Flucht vor Verfolgung und Not und in der Sorge um ihre physische Unversehrtheit überquerten bis zu 100 Flüchtlinge zusammengepfercht in Booten so groß wie Nussschalen das offene Meer. In ihren Ursprungsländern musste die persönliche Unversehrtheit tagtäglich hart erkämpft werden. Der größte Anteil ihrer Bewohner wird bis heute von Armut und Krankheit bedroht und ihr persönliches Schicksal ist der Willkür der Umstände unterworfen.

 

In unserem Land ist die physische und psychische Unversehrtheit als Recht in der Verfassung verankert. Sicherheitskonzepte und entsprechende Instanzen haben die Aufgabe diese Unversehrtheit zu gewährleisten.

 

Das Corona-Virus hat uns in diesem Teil der Welt einen vagen Eindruck davon vermittelt, was es bedeutet sich in seiner physischen Unversehrtheit bedroht zu fühlen. Von Heute auf Morgen ist die Leichtigkeit mit der wir uns durch die alltägliche Welt bewegen verschwunden. Jeder Mensch, der uns ohne eine Maske entgegenkommt, stellt eine mögliche Bedrohung dar. Plötzlich wird der Einkauf im Supermarkt zum Spießrutenlauf, und der Besuch eines Einkaufzentrums hat seinen Reiz verloren. Statt gedankenverloren durch die Straßen zu bummeln sind wir allzeit wachsam, sobald wir das Haus verlassen. Am Ende eines Tages, unterwegs mit Abstand und Maske in Geschäften, Lokalen und öffentlichen Verkehrsmitteln sind wir erschöpft und nervös. Plötzlich werden wir ungeduldig und gereizt mit Freunden und Fremden, erschrecken uns über uns selbst. Jeder wehrt sich gegen die neue Realität auf seine Weise; die Einen leben in Angst, die Anderen verweigern dem Virus seine Berechtigung und viele müssen sich um ihre Existenz sorgen. Wir flüchten in unsere häusliche Sicherheit und wollen unser altes Leben wieder zurück.

 

Ich habe all diese Reaktionen ausnahmslos an mir selbst und in meinem Umfeld  wahrgenommen. Beschämt stelle ich fest, dass mein yogischer Weg der Achtsamkeit längst nicht so fortgeschritten ist, wie ich dachte. Ich gehöre nicht zu einer Risikogruppe, mein Leben und meine wirtschaftliche Existenz sind nicht in Gefahr. Meiner Familie geht es gut. Trotzdem gelingt es mir nicht, unter den veränderten Umständen gelassen zu bleiben. Meine innere Mitte schwangt wie ein Grashalm im Wind und meine Geduld für die Nöte der Anderen scheint begrenzt. Mir fallen die Bilder der Flüchtlingslager aus den Nachrichten ein, und ich denke an die Sorgen der Mütter um ihre Kinder. Meine Beschämung und innere Unruhe steigt, meine Hände scheinen gebunden, ich bin unzufrieden mit mir selbst.

 

Ich gehe auf meine Matte auf der Suche nach Klarheit. Breite meine Fußsohlen aus und verbinde meine Fersen fest mit der Erde. Warte, bis sich nach und nach alle Knochen über dem Fersenbein ausrichten, die Wirbelsäule sich aufrichtet, die Brust sich hebt und mein unruhiger Geist sich zum Hinterkopf zurückzieht. Langsam kommt alles an seinen Platz und Ruhe tritt ein. Die Enge, die ich zuvor in Brust und Magen gefühlt habe weicht; mit jedem Atemzug öffnet sich mehr Raum. Ich strecke die Arme und Beine im Trikonasana (Gleichschenkliges Dreieck) aus und die Räume werden weiter. Plötzlich verstehe ich. Schaffe ich Raum in mir selbst, ensteht auch Raum für Andere. Ruhe und Zuversicht strömen aus der Weite in meiner Brust. Mut und Entschlossenheit aus der Kraft der Erdung. Am Ende meines Übens empfinde ich wieder jene innere Freiheit, die mir hilft Entscheidungen zu treffen und Verantwortung für mich selbst und Andere zu übernehmen. Nicht getrieben vom Zeitgeist, sondern mit geschärftem Blick (viveka), um keine Zeit darauf zu verschwenden mich in Gedankenkarussellen um mich selbst zu drehen wie ein Perpetuum Mobile.

 

Die Selbsterforschung (svadhyaya) ist Teil der Niyama-Prinzipien. Zusammen mit den Yamas und dem Praktizieren der Asanas (Yoga-Haltungen) bilden sie besonders in Zeiten wie diesen einen verlässlichen Anker für einen unruhigen Geist. Für heute ist die Gefahr der Selbsttäuschung (viparyaya) gebannt. Vielleicht nur bis morgen. Aber ich habe ja meine Matte."


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Kommentare: 1
  • #1

    Annette Besuch (Freitag, 18 September 2020 08:02)

    Liebe Karin, ich finde deine Beiträge sehr offen und ehrlich. Sie sprechen mir aus der Seele. Wunderbar. Ich freue mich schon auf den nächsten.

Fuerteventura - wie das Inselleben auf die Yogapraxis vorbereiten kann


 In der Yoga Praxis verwenden wir oft die Beschreibung, dass wir uns von der äußeren Hülle unseres Körpers und Geistes langsam zu unserem inneren Kern vorarbeiten, ähnlich einer Zwiebel, die immer mit einer neuen Schale aufwartet, sobald sie die äußere verloren hat.

 
Wir nennen es auch den Weg von der groben zur feinen Wahrnehmung. Im Durchdringen der äußeren Schichten unseres Bindegewebes lernen wir die Muskulatur nach und nach zu befreien und einen gezielten differenzierten Zugriff zu erlangen. Unser Geist erfährt in diesem Prozess des „Schälens“ ebenfalls eine Veränderung. Unser Aufmerksamkeitspotential und unsere Achtsamkeit werden erhöht; der Blickwinkel auf uns selbst und andere verändert sich. Wir nehmen Dinge wahr, die uns zuvor nie bewusst oder aufgefallen wären.

 

Eine für diesen Prozess unerlässliche Eigenschaft ist Geduld. Es ist nicht die Geduld, die man an der Supermarktkasse oder an der Ampel braucht. Es ist kein vorübergehender Moment, den es gilt zu überbrücken, um dann mit den üblichen Gewohnheiten fortzufahren.

 

Die hier gefragte Geduld beinhaltet viel mehr als das Unwohlsein in einem Moment des untätigen Stillhaltens. Früher nannte man diesen Zustand Langeweile, die seit der Einführung des Handys ausgestorben ist.

 

Diese Geduld beinhaltet vorbehaltslose Ergebenheit, unbegründetes Vertrauen in das eigene Schicksal und die scharfsinnige Beobachtung der inneren Fluchtbewegungen im Körper und Geist. Ein/e Yoga-Übende/r gibt niemals auf, geht aber nicht in die Falle der Besessenheit. Er/Sie ist von Ehrgeiz erfüllt ohne hart mit sich zu selbst zu sein. Er/Sie freut sich über den kleinsten Fortschritt ohne sich je zu beurteilen. Er/Sie gibt sich nie mit einer einfachen Dualität zufrieden, er/sie sucht kein einfaches ja oder nein, kein richtig oder falsch, sondern immer nur Erkenntnis. Wie wäre all das möglich ohne eine allumfassende Geduld und ein tiefes Verständnis für das eigene Sein?

 

Was hat das mit Fuerteventura zu tun und wie hat es mich auf die Herausforderungen im Yoga vorbereitet?

 

Da sind zunächst die Geographie und das Klima der Insel.

Karge Landschaft in allen Schattierungen zwischen weißem Kalkgestein, rotem Lehmboden und schwarzer Lavaasche. Verwitterter Fels, Zeuge von Millionen von Jahren Erdgeschichte, runde braune aneinander geduckte Bergrücken, deren ausgewaschenen Hänge tiefe Adern durchziehen, die den seltenen Regen in die trockenen Flusstäler leiten. Endlose weiße Strände mit immer wechselnden Verwehungen, der Wind und das Meer allgegenwärtig.

 

Im Winter plötzlich eine grüne Explosion. Einige wenige Regentage haben im Boden verborgene Wiesen hervorgebracht. Die steinigen Treppen der Bergehänge haben sich in bunte Blumenteppiche verwandelt. Wildes Getreide schießt aus dem Boden und wiegt sich unter den Passatwinden. Das frische Grün leuchtet auf der roten Erde. Verfallene Häuser aus sorgfältig aufgeschichteten Kalksteinbrocken erheben sich aus der Landschaft, als wären sie aus ihr ebenso gewachsen wie das flüchtige Gras. Das plötzliche Erblühen verheißt Fruchtbarkeit und Wachstum. Die alten Geschichten über große Weizenfelder und Viehherden erwachen für kurze Zeit zum Leben. Die verbliebenen Bauern blicken sehnsüchtig zum Himmel. So wie ihre Vorfahren in den letzten Jahrhunderten beten sie um mehr Regen, um den Fortbestand der Herden und der Anpflanzungen zu sichern.

 

Spätestens im März ist alles vorbei. Das Gras vertrocknet, das wilde Getreide tief gebeugt unter einem heißen Sahara Wind. Die Farben ziehen sich in die Erde zurück. Einmal mehr hat die Natur den Inselbewohnern nur einen kurzen Blick in ein Land gewährt, in der die Erde den Menschen verlässlich ernährt. Alles zurück auf Los. Nun heißt es WARTEN. Warten auf den nächsten Winter, warten auf den nächsten Regen.

 

Die Natur hat den Charakter der Inselbewohner über Jahrhunderte geprägt und geschliffen wie der Wind seine Berge. Sie passten sich den Witterungseinflüssen an, um zu überleben. Erfindungsreich machten sie sich den Wind zu Nutze durch Windmühlen, richteten ihr Häuser nach der Sonnen- und der Windrichtung aus. Ihr Vieh, hauptsächlich Ziegen, kann auch ohne Zufütterung den Sommer in den Bergen überstehen. Sie fressen die Aulaga, das dornige Distelgewächs, und klettern auf ihrer Nahrungssuche auch auf die wenigen Bäume. Sie sind die Fleisch- und Bestandreserve der Hirten. Heute noch wird jeder streunende Hund, der eine Ziege reißt, sofort erschossen.

 

Die Einwohner von Fuerteventura haben die Geduld bis zur absoluten Hingabe, ja bis zum Fatalismus kultiviert. Diese Eigenschaft ist in ihren Genen hinterlegt und man findet sie auch heute noch im Charakter ihrer Nachkommen wieder. Die Fähigkeit sich in eine unabänderliche Situation zu ergeben anstatt gegen sie anzukämpfen, kann einen geborenen Städter und Festlandbewohner im täglichen Alltag bis an den Rand der Verzweiflung treiben. Gelassen und mit stoischem Gleichmut wird jeglicher Mangel angenommen, seien es Lebensmittel, Fachkräfte oder Utensilien des täglichen Bedarfs. Lange Warteschlangen vor Kassen im Supermarkt halten keine Kassiererin davon ab, dem zahlenden Kunden beim Einpacken seiner Einkaufstüten zu helfen. Ein Gang zum Amt ist Zugereisten nur bei regelmäßiger Meditationspraxis zu empfehlen. Ersatzweise empfiehlt sich eine lokale Beauftragung für die administrativen Belange. Es ist nicht sinnvoll diese Menschen unter Zeitdruck zu setzten. Die Zeit hat hier andere Einheiten.

 

Fuerteventura verdanke ich die Einsicht wieviel Durchhaltevermögen bewirken kann. Ich habe lernen dürfen meine Kräfte nicht in sinnlose Kämpfe zu investieren, sondern sie nutzbringend einzusetzen. Bei aller Anpassungsfähigkeit ist es jedoch keinesfalls so, dass man dem Schicksal hoffnungslos ausgeliefert bleibt. Entscheidungen werden getroffen und ein einmal eingeschlagener Weg unbeirrt verfolgt, auch wenn er immer wieder von Steinen und Abgründen unterbrochen wird. Ich habe erfahren, dass viele Lösungen nicht außerhalb meiner Selbst, sondern in meinem Innern zu finden sind. Stillhalten bedeutet nicht Untätigkeit, vielmehr ist das Innehalten die Voraussetzung dafür, mir selber näher zu kommen, eine Situation klar zur erkennen und aus dieser Erkenntnis heraus zu handeln.